Die vierte Seminarfahrt: von Blumensträußen, Winkingern und Abschiedsbriefen




Es ist mein erster Arbeitstag nach der letzten Seminarfahrt und ich schreibe diesen Beitrag, ohne viel Zeit ins Land ziehen zu lassen. Die letzte Woche war etwas ganz Besonderes und deshalb möchte ich die Erinnerungen festhalten, während sie noch ganz frisch sind.


Wie ich bereits in einem anderen Artikel erklärt habe, gibt es unter den Freiwilligen der Seminargruppe immer eine Handvoll, die das Seminar ein paar Monate vorher mit den Betreuern mitgestaltet.
Diesmal war auch ich ein Teil dieser Seminarvorbereitungsgruppe (SVT-Gruppe).
Im Mai ging es für Hannah und mich also nach Leipzig zur LKJ, wo wir mit anderen Freiwilligen ein paar hübsche Workshops und Aktivitäten für diese letzte Seminarfahrt planten. Unser Ziel war es natürlich, Wissen und Lernen mit Kreativität und Spaß zu verbinden. Unser Überthema für die Woche lautete nämlich „Das Politische in der Kunst“. Dazwischen sollte es aber genug Zeit geben, damit wir das Zusammensein als Gruppe auch noch einmal wirklich ausführlich genießen konnten.

Am 15. Juli (Montag) sollte die letzte gemeinsame Reise endlich beginnen. Und wie sollte es anders sein, lief alles mal wieder ziemlich chaotisch ab. Jeder war in seiner Anreise relativ frei. Es gab diesmal keine Sammelpunkte und somit auch keine gemeinsame Anreise wie sonst. Ich kam also am Bahnhof an, zog mir ein Ticket am Automaten und bekam gerade noch mit, wie mir eine Gruppe aus Dresdner, Chemnitzer und Görlitzer Freiwilligen vor der Nase davonfuhr. Die Leute, mit denen ich mich verabredet hatte, stiegen mit mir in den Zug, der erst eine halbe Stunde später fuhr.
Unser Ziel: Pirna-Liebethal. Ein kleines verschlafenes Nest am Rande des Elbsandsteingebirges.
Nach einer bequemen Zugfahrt und einer holprigen Bustour über die Dörfer kamen wir endlich am Jugendgästehaus Liebethal an. Wie in unserer Einladung beschrieben, bestiegen wir den Weg zum Gutshof über eine steile und vor allem lange Treppe. Mit Koffern und Gepäck war das natürlich kein sehr entspanntes Unterfangen. Später stellte sich heraus, dass wir auch einfach die Straße außen herum hätten entlanglaufen können…
Es erwartete uns bereits ein stürmisches Begrüßungskommando mit vielen Umarmungen, lauter Musik und tosendem Gelächter. Es war wirklich schön, alle wieder beisammen zu haben. Es waren sogar ein paar neue Gesichter dabei. Es gab nämlich auch Freiwillige, die gerade erst in den Dienst eingestiegen waren und jetzt ihre zweite Fahrt mit uns bestritten. Wieder andere konnten aus zeitlichen Gründen nicht mit ihrer eigenen Gruppe fahren und waren auf unsere Seminargruppe ausgewichen.
Als alle eingetroffen waren, konnte es endlich losgehen. Zunächst stand natürlich viel Organisatorisches an. Aber danach führten uns Hannah und ein weiterer Bufdi in die Wochenthematik ein. In verschiedenen Gruppenarbeiten und Gesprächsrunden erörterten wir intensiv die Wechselwirkungen von Politik und Kunst zueinander. Ein Diskussionsthema, das ich als besonders spannend empfand: Sollte man die Kunst vom Künstler trennen? Beispielsweise Michael Jackson, der mehrfach unter Verdacht des Kindesmissbrauchs stand. Richard Wagner, der offen den Antisemitismus auslebte. Oder auch ganz aktuell; der Fall Axel Krause. Der Maler wurde wegen seiner Nähe zur AfD von der diesjährigen Leipziger Jahresausstellung ausgeschlossen. Die Debatte um ihn, hätte fast zur kompletten Absage der Veranstaltung geführt.
Zum Schluss durfte jeder noch seine persönliche Aufgabe für die Woche aus dem Lostopf (der aus einer aufklappbaren Weihnachtskugel im Todesstern-Look bestand) ziehen. Die kleinen Albernheiten wie „Weiß alles besser als der Gruppenleiter“ oder „Klaue deinem Sitznachbarn immer die Decke“, hatten wir uns zu den Seminarvorbereitungstagen ausgedacht. Spaßeshalber hatte ich vorgeschlagen, einer Person einen Blumenstrauß zu schenken und wie es das Schicksal so wollte, zog ich meine selbst erdachte Aufgabe!
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, das Gelände spielerisch zu erkunden. Mir wurde Sardine beigebracht. Eine Abwandlung des klassischen Versteckens, bei dem sich nur einer versteckt und die Finder sich mit zu ihm ins Versteck gesellen müssen, bis nur noch ein Sucher übrigbleibt.
Anfangs hatte ich schon meine Probleme und so suchten wir (als Allianz der Suchenden zusammengeschlossen) über eine Stunde das weitläufige Gebiet ab. Hinweise über Instagram Stories wiesen uns dann schließlich den richtigen Weg und erlösten sowohl die Versteckten als auch uns Sucher.

Der Dienstag begann mit sehr viel Gekicher. Scheinbar hatte ich einen Clown zum Frühstück verspeist. Jedenfalls bekam ich ständig Lachanfälle und konnte mich nur schwer wieder beruhigen.
Thematisch standen für uns zwei Workshops zur Wahl. Der eine drehte sich um Klimawandel, der andere und Geschlechteridentität und –vielfalt. Den Vorschlag für den Genderworkshop hatten Selma und ich während der Seminarvorbereitungstage gemacht. Uns beiden liegt das Thema am Herzen und ich war der Meinung das über LGTB+ viel zu wenig während der Seminarfahrten geredet wurde.
Umso schöner fand ich es, dass der Gerede e.V. aus Dresden sich Zeit für uns nahm. Alles verlief genauso so, wie Selma, ich und der Rest der SVT-Gruppe es uns gewünscht hatten. Innerhalb von sieben Stunden redeten wir frei und offen über die Themen Sex, Geschlechteridentität und sexuelle Vielfalt. Wir klärten bestimmte Bezeichnungen wie Trans-, non-binary, divers und natürlich auch männlich und weiblich. Es wurde mit Vorurteilen aufgeräumt und auch über den Tellerrand Deutschland hinausgeblickt. Mit Filmen und Interviewausschnitten widmeten wir uns der Transsexualität etwas intensiver. An der frischen Luft veranstalteten wir ein menschliches Barometer. Dort konnten wir uns zu Fragen positionieren wie „Könntest du dir vorstellen, eine Beziehung mit einem Transgender einzugehen?“ oder „Würdest du, wenn du die Möglichkeit hättest, etwas an deinem Körper verändern?“.
Es war mir ein inneres Blumenpflücken, mit den Leuten vom Gerede e.V. zu arbeiten, weil die Atmosphäre, die sie schufen, viel Platz für eigene Interessen und Fragen ließ. Die Zeit verging wie im Flug und wir Teilnehmer waren glücklich, aufgeklärter und ein Stück weit selbstbewusster durch unser neues Wissen aus diesem Workshop zu gehen.
Am Abend zeigte ich einigen anderen Freiwilligen das Wagnerdenkmal. Dieses thront imposant nicht weit vom Gutshof entfernt in einem Waldstück , das ich mit Hannah bereits am Vortag erkundet hatte. Nach diesem erfrischenden Spaziergang durften wir uns auf gegrilltes Essen freuen. Unsere Jungs mutierten zu regelrechten Grillweltmeistern und servierten uns nur das Beste vom Rost.
Nach dem Abendbrot spielten wir noch einige Runden unseres allseits beliebten Werwolf-Spiels und Wikinger Schach (bei dem ich wesentlich mehr Talent bewies, als bei anderen Strategie- und Geschicklichkeitsspielen).

Nicht nur über Politik reden, sondern sie auch mit der Kunst verbinden, konnten wir am Mittwoch. Auch hier erwarteten uns zwei Wahlworkshops. Einige von uns wählten den Graffiti-Workshop, die anderen entschieden sich für Siebdruck.
Ich hatte extra einen Stoffbeutel mitgebracht, den ich mit dem Siebdruckverfahren gern bedrucken wollte. Mit meinem Lieblingspruch „Lieber solidarisch als solide arisch“ wäre ich auch definitiv unter die Kategorie politisch gefallen. Es stand natürlich jedem frei, wie und mit was er seinen Stoff bedrucken wollte. Und damit durfte auch jeder selbst entscheiden, ob er eine politische Message in sein Motiv einbringen wollte oder nicht.
Also malten wir mit voller Hingabe auf unseren Schablonen herum und ritzten mit Feuereifer Form um Form aus dem Papier. Leider stellte sich nachher heraus, dass das Papier, das wir bekommen hatten, für Siebdruckschablonen zu dick war. Deshalb durften wir bereits vorgefertigte Motive auf unsere Textilien drucken. Da ich den Klimaworkshop nicht mitgemacht hatte und trotzdem sehr an Mutter Natur hänge, ziert jetzt ein schönes Eichenblatt meinen Beutel.
Leider etwas frühzeitig fertig, gesellten wir uns auf die Wiese, wo parallel bereits fleißig Graffitis gesprüht wurden. Nachdem ich die Sonne und den Duft von frischer Farbe genossen hatte, machte ich mich auf, um meine Wochenaufgabe endlich zu erfüllen. Bei einem netten Spaziergang mit einer Zimmernachbarin, sammelte ich auf Feld und Wiese einen hübschen Blumenstrauß zusammen. Hilfe, war ich rot im Gesicht, als ich das Sträußchen schließlich erfolgreich überreicht hatte. Aber da in dieser Woche noch die ein oder andere ungewöhnliche Sache passiert ist, war den Umstehenden eigentlich sofort klar, dass ich hier lediglich meine Wochenaufgabe erfüllte.

Donnerstag war die Zeit des Abschieds gekommen. Eine Freiwillige und auch gute Freundin von mir verließ uns frühzeitig. Den Tag so zu beginnen, lag mir schwer im Magen. Verbringen sollten wir ihn größtenteils in der Natur. Unsere Betreuer wanderten mit uns über die Wiesen und Wälder von Liebethal. Weil ich ebenfalls in einem Dorf kleinen Dorf aufgewachsen bin, tat mir die Natur mal wieder richtig gut. An der frischen Luft fanden wir uns partnerweise zusammen und besprachen das vergangene Jahr. Wir teilten lustige, aber auch emotionale Geschichten, besprachen Hochs und Tiefs der letzten Monate. Wir hatten die Möglichkeit, ein paar schöne Polaroidfotos zu knipsen, Kuchen zu essen und den Brief zu lesen, den wir an unser Zukunfts-Ich auf der ersten Seminarfahrt geschrieben hatten.  Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich beim Lesen wirklich meine Ängste und Sorgen vor diesem Jahr heraushören konnte, obwohl ich mich beim Schreiben damals gar nicht ängstlich gefühlt hatte. Deshalb bin ich froh, mich in die Richtung entwickelt zu haben, die sich mein Vergangenheits-Ich gewünscht hat.
Erschöpft aber guter Dinge machten wir uns auf den Weg zurück zum Gutshof. Dort gingen wir unseren Abschlussabend an, der wie immer mit der offenen Bühne beginnen sollte. Ich ließ mich auch zu einem Mini-Acapella-Auftritt überreden. Aber am besten gefallen, hat mir der Beitrag meines Zimmergenossen Teddy. Er spielte am Klavier und sang Abspann von Enno Bunger. Und auch wenn das Lied von Trennung handelt, so geht es doch auch um Abschied und die weite Distanz. Das hat in mir heraufbeschworen, was ich die ganze Woche über so gut verdrängt hatte: Bald ist die schöne Zeit vorbei und jeder geht seines Weges. Da flossen auch ein paar Tränchen bei mir.
Getrocknet sind sie dann beim gemütlichen Lagerfeuer mit Stockbrot, Marshmallows und viel Trashmusik, bei der jeder mitsingen konnte.

Time to say goodbye - Freitag war der Tag der Abreise. Und auch hier lief es etwas drunter und drüber. Nachdem wir unsere Koffer gepackt und die Zimmer verlassen hatten, wurden Seminarraum und Gemeinschaftsküche aufgeräumt. Danach begann unser letzter Stuhlkreis. Wir wurden über die verschiedenen Möglichkeiten der Alumni-Arbeit der LKJ aufgeklärt und wie wir auch noch nach dem Freiwilligenjahr mit dem Verein in Kontakt bleiben können. Danach gab es ein „Abschieds-Speeddating“. Mit demselben Prinzip hatten wir auch den ersten Stuhlkreis bei der ersten Seminarfahrt begonnen, um uns besser kennenzulernen. Es gibt einen Außen- und Innenkreis. Zwei Freiwillige stehen sich immer gegenüber. Es wird eine Frage in den Raum geworfen. Wenn die Frage beantwortet ist, rück der Außenkreis eine Person weiter. Anschließend fanden unsere Betreuer noch ein paar schöne Abschlussworte für uns und auch hier flossen bei mir die Tränen.
Nach dem Mittagessen ging es dann mit dem Bus wieder Richtung Bahnhof. Das Wetter entsprach meiner Stimmung. Es goss aus Eimern! Kein schöner Gedanke wollte sich mehr fassen lassen. Nichts konnte meine Stimmung aufhellen. Als wir aus dem Bus ausstiegen, musste ich mir natürlich noch meinen Fuß verknachsen. Bravo. Im Zug ging das große Verabschieden los, weil jeder an einer anderen Haltestelle ausstieg. Ein wenig Trost spendete der Gedanke, dass ich viele noch einmal bei der Auftakt-Abschieds-Veranstaltung wiedersehen werde.
Und auch die süßen Nachrichten der anderen, die wir über die Woche verteilt an jeden Freiwilligen schreiben sollten, konnten mich von meinem „Trennungschmerz“ und dem pochenden Schmerz im Fuß ablenken. Diese kleine Geste wurde bei jeder Seminarfahrt in irgendeiner Form durchgeführt. Ob nun konstruktive Kritik oder ein nettes Kompliment, bis jetzt habe ich mir jede Nachricht aufgehoben wie einen Schatz.

Mein Fazit: Diese Woche war eine Achterbahnfahrt der Gefühle für mich. Von super lustig bis zutiefst traurig war alles dabei. Ich weiß noch, wie bange mir vor der ersten Seminarfahrt war. Doch aus den Fremden von damals sind mittlerweile Freunde geworden. Gute Freunde. Ich habe herzensgute Seelen und schillernde Persönlichkeiten kennengelernt. Menschen, die wie ich ihre Leidenschaft in der Kunst gefunden haben. Ohne meine Seminargruppe wäre dieses Jahr nur halb so schön geworden. Ich konnte mit ihnen rumalbern und mich totlachen, aber auch die tiefsinnigsten Gespräche führen. Und auch unsere Koordinatoren haben eine prima Arbeit geleistet. Wir hatten Freiraum, durften uns entwickeln und lernten gleichzeitig auch noch so viele Dinge über uns selbst und die Welt. Gerade die Seminarfahrten haben mich oft aus meiner Komfortzone gelockt und mir meine Angst vor Fremdem (und Fremden) genommen. An alle meine Mitbufdis da draußen, die sich vielleicht hier auf meinen Blog verirrt haben: Danke für die geile Zeit. Ich hatte mal wieder echtes Glück, an so tolle Menschen wie euch geraten zu sein.

Bis bald, Annalena




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