Die erste Seminarfahrt: Von Werwölfen, Engeln und neuen Freundschaften

Ein fester Bestandteil der Freiwilligendienste sind Seminarfahrten. Egal, ob man nun Bundesfreiwilligendienst leistet oder ein Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr bestreitet.
Jeder Freiwillige  untersteht einer Trägervereinigung, die zwischen Einsatzstelle und ihrem Schützling vermittelt, ihn unterstützt und ihm jeden Monat sein wohlverdientes Taschengeld überweist. In meinem Fall wäre das die Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung Sachsen e.V. oder kurz LKJ Sachsen. Jedem Freiwilligen steht ein Betreuer dieses Trägers zur Seite, der sich um ca. 30 Jugendliche gleichzeitig kümmert. Viermal im Jahr trifft sich die Gruppe während einer einwöchigen Seminarfahrt. Im Grunde kann man sich das Ganze wie eine Klassenfahrt vorstellen. Nur mit dem Unterschied, dass alle Teilnehmer aus den verschiedensten Regionen Sachsens anreisen.
Für meine Kollegin Hannah, die ebenfalls ihren Bundesfreiwilligendienst bei den Dresdner Musikfestspielen leistet, und mich war es am 29.10.2018 endlich soweit.
Die Woche begann mit einer etwas holprigen Anreise. Unser Sammelpunkt war eine der vielen Bushaltestellen am Dresdner Hauptbahnhof. Ein Busunternehmen sollte uns dort abholen und geschlossen ans Ziel bringen. Meistens bin ich überpünktlich an vereinbarten Treffpunkten. So auch an diesem Tag. Problematisch war allerdings, dass zu dieser Zeit gefühlt tausend Reisegruppen unterwegs waren und es trägt natürlich keiner ein Schild mit der Aufschrift „Alle Freiwilligen bitte hier her!“ um den Hals. Also lief ich etwas verzweifelt alle Haltestellen ab und versuchte irgendeinen Hinweis auf meine Mitreisenden zu finden. Und gerade als mich schon die Panik überkam, ich könnte ja in meiner Schusseligkeit am komplett falschen Ort gelandet sein, traf ich Selma. Selma gehört ebenfalls zu meiner Seminargruppe und hielt an jenem Tag denselben Batzen Zettel mit Reiseinformationen in der Hand wie ich. Im Nachhinein erkannten uns auch alle anderen Freiwilligen daran, sodass unsere Gruppe bald vollzählig war.

Unser Ziel hieß Colditz.
Colditz ist ein kleines verschlafenes Nest irgendwo im Nirgendwo von Sachsen. Es gibt dort nicht viel, außer dem Schloss, in dem wir die Woche verbringen sollten. Die Jugendherberge, die man in dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager errichtet hat, ist wirklich schön. In meinem Leben habe ich schon viele solcher Einrichtungen erlebt, aber Schloss Colditz ist wirklich eine der schönsten gewesen. Vor Ort erfuhren wir, dass wir gemeinsam mit einer weiteren Seminargruppe der LKJ Sachsen unter der Leitung von deren Betreuerin Inga im Schloss wohnen würden (insgesamt unterhält die LKJ Sachsen 5 Seminargruppen). Und endlich trafen wir auch auf unsere eigene Betreuerin und unseren Co-Teamer.
Für die nächsten Tage erwartete uns ein gut durchdachter Zeitplan. Die Seminarwochen sind nämlich darauf ausgelegt, sich weiterzubilden, mit anderen Freiwilligen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen. Am Anfang fühlt sich das Ganze wie eine zu groß geratene Selbsthilfegruppe an. Man sitzt in einem Stuhlkreis und erzählt 30 vollkommen Fremden, welche Erwartungen man an das Seminar hat.
Ich muss zugeben, dass meine eigenen Vorstellungen nicht sonderlich groß waren. Eigentlich war meine größte Hoffnung, dass es nicht zu viele unnötige Spielchen geben würde. Ein Freund von großen Gruppen oder Klassenverbänden war ich auch noch nie.  Wenn ich in einem kleineren Team arbeite, dann weiß ich meistens, wie ich mich nützlich machen kann. Aber alles, was über den Tellerrand einer Arbeitsgruppe hinausgeht, überfordert mich manchmal. Besonders Gruppen mit Gleichaltrigen. Trotzdem war ich sehr neugierig auf die Geschichten und Erfahrungen der anderen Freiwilligen. Schließlich hatte sich mein Freiwilligendienst bis dahin nur in unserem kleinen Bürouniversum abgespielt.
Die größte Hürde war für mich die Sache mit den Namen. Um mir alle Namen meiner Kollegen im Büro zu merken, habe ich mindestens drei Wochen gebraucht. Und nun sollte ich mir 30 Stück in einer einzigen merken. Da es nicht nur mir so ging, wurden Kennlernspielchen veranstaltet. Die waren erfreulicherweise gar nicht mal so schlimm, wie ich sie mir ausgemalt hatte.

Alle hochkonzentriert bei der Arbeit
Während den Bildungsblöcken, wie ich unsere Arbeitszeit jetzt einfach mal nenne, wurde häufig unsere Konzentrationsfähigkeit auf die Probe gestellt. Meistens bildeten wir kleinere Arbeitsgruppen, in denen man zu einem bestimmten Thema diskutieren sollte. Leider war die dafür eingeplante Zeit entweder zu kurz, um wirklich alle Facetten der Diskussion abdecken zu können. Oder wir wurden uns zu schnell einig und die Debatte endete frühzeitig.
Etwas anders verhielt es sich da, wenn der Bildungsblock vorbei war, wir den Raum wechselten oder einfach noch auf andere Arbeitsgruppen warten mussten. Dann saßen wir meistens im Flur oder einfach auf dem Boden und fanden eigene Themen, durch die sich viele gemeinsame Interessen herauskristallisierten. So entstanden  auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit oft spannende und vielfältige Gespräche.
Wir erkannten beispielsweise, dass unsere Gruppe gut miteinander harmoniert und als Team ziemlich gut funktioniert.
 Das lässt sich auch schnell erklären: In einer (langatmigen, aber sehr edukativen) Einsatzstellenvorstellung bekamen wir einen Einblick in die verschiedenen Arbeitsbereiche der anderen Freiwilligen. Es wurde schnell klar, dass wir alle irgendwo eine künstlerisch-kreative Ader besitzen. Sei es in der Musik, Literatur, Schauspiel, Kunst und vielem mehr. Diese Leidenschaften verbinden uns alle miteinander.
Beim Gruppenbrainstorming für das eigene Projekt - ein voller Erfolg!
Vom vielen Reden, Nachdenken und Zuhören waren wir über den Tag hin meistens sehr erschöpft. Um motiviert starten zu können, machten wir untereinander aus, jeden Morgen einen Kanon zu singen. Zwischendurch gab es Aktionen zum Teambuilding an der frischen Luft, die uns noch mehr zusammenschweißten und den Kreislauf wieder in Schwung brachten.
Als kleine Überraschung wurde eines Abends jedem von uns  ein Brief von seinem Vorgänger überreicht. Meine Vorgängerin Rebecca hat mir eine sehr aufmunternde Nachricht verfasst, die mir in der Einfindungsphase nochmal extra Motivation gegeben hat. Leider konnte ich Rebecca nur kurz kennenlernen, dabei hätte ich noch tausend Fragen an sie gehabt. So wurde auch die Idee für diesen Blog hier geboren. Vielen aus der Gruppe ging es ähnlich und die meisten bestärkten mich in meiner Idee, meine/n Nachfolger/in virtuell zu unterstützen, wenn ich ihm/ihr im Büro selber nicht mehr unter die Arme greifen kann.

Auch während unserer Freizeit blieb die Gruppe zusammen. Beim Mittagessen (das übrigens überragend gut für eine Jugendherberge schmeckte) fand man immer irgendjemanden, neben den man sich setzen konnte. Wir unternahmen ein paar Spaziergänge im Wald hinter dem Schloss, staunten während einer Museumsführung über die kreativen Ausbruchsversuche der im Gefangenenlager Colditz inhaftierten alliierten Offiziere oder genossen die herrliche Aussicht auf das Dorf mit einem leckeren Stück Kuchen.
Entspannen bei herrlichem Kuchen, Kaffee und Sonnenschein
Mein Handy blieb aus. Ich brauchte es über den Tag einfach nicht. Es musste nichts gegoogelt werden. Es war immer für Beschäftigung gesorgt und zum Quatschen fand sich auch stets jemand. Lediglich um einige legendäre Spielabende zu koordinieren, wurde eine WhatsApp-Gruppe eröffnet. Nur dank ein paar Tassen Kaffee morgens und mittags war es mir möglich, den ausgeklügelten Strategien meiner Mitspieler bei etlichen Runden „Werwolf“ und „Widerstand“ bis in die späten Abendstunden zu folgen. Wobei am Ende keiner mehr wirklich durchsah und nur noch wild drauflos beschuldigt wurde. Was habe ich Tränen gelacht und geweint bei so manch tollkühner Impro-Schauspielrunde und nicht zu vergessen die Chinesischen Tischtennisduelle, die so spannend waren, als ginge es um Olympiagold.

Auch zu der anderen Seminargruppe von Inga bauten wir Brücken. Wenn man sich nicht schon beim Mittagessen kennengelernt hatte, traf man sich spätestens bei der gemeinsamen Bildungseinheit am Ende der Woche. Zudem veranstalteten wir eine große Engelaktion.
Durch Auslosen fand jeder einen Partner, dem er über die Woche ein Freude bereiten sollte. Das konnte von einem Stück Schokoloade bis hin zu einem netten Gespräch oder einer kleinen Gefälligkeit wirklich alles sein. Wer jemanden aus seiner eigenen Gruppe gezogen hatte, hatte es mit der Übergabe seines Geschenks etwas einfacher, weil er seinen Partner bereits kannte. Für „Engel“ aus der jeweils anderen Gruppe, war es allein schon eine Herausforderung, dem gezogenen Namen eine Person zuzuordnen. Tipp an meine/n Nachfolger/in: Solltet ihr solche Aktionen auch auf eurer Seminarfahrt machen, dann schau dir doch einfach mal die Liste mit der Zimmerbelegung an (wenn sie denn öffentlich aushängt). Dann kannst du dein Geschenk einfach vor die Tür legen. Oder du stellst es mit Namen versehen an einen Ort, wo jeder einmal dran vorbeikommt. Zum Beispiel neben den Kaffeeautomaten oder die Besteckausgabe.
Höhepunkt der Woche war eine gruppenübergreifende „Offene Bühne“. Jeder durfte etwas präsentieren und es kamen noch ungeahnte Talente zum Vorschein. Auch ich tummelte mich zwischen den Nachwuchscomedians, zukünftigen Operndiven und dem modernen Dichternachwuchs mit einem Poetry-Slam Text. Zum Schluss stimmte unsere gesamte Gruppe auch noch einen unserer Kanons an („Heyjo, spann den Wagen an“ hatte sich wirklich zu unserem absoluten Favoriten gemausert)  womit wir keinen schlechten Eindruck bei den anderen hinterließen.

Alles in allem kann ich nur sagen, dass die Woche ein voller Erfolg war. Wir haben wirklich tolle Betreuer. Sie haben uns allen Freiraum gegeben, den wir brauchten. Ihren Zeitplan haben sie immer flexibel an unsere Verfassung und die Stimmung in der Gruppe angepasst. Für Vorschläge und Wünsche waren sie sehr offen. Für uns sind sie Helfer und Unterstützer, die sich stets bemühen, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Ihre entspannte und lockere Art hat sich nur positiv auf unsere Gruppendynamik ausgewirkt. Viele Entscheidungen wurden uns überlassen und auch die Inhalte der nächsten Seminarfahrten werden die beiden in unsere Hände legen.

Abreisetag, aber kein Abschied für immer!
Zu meiner Gruppe kann ich nur sagen, dass wir wohl das Idealbild einer solchen darstellen. Nicht jede Seminarfahrt läuft so reibungslos ab wie unsere. Das durfte ich von Freiwilligen aus den anderen Seminargruppen erfahren. Überraschend war es dann doch, dass es keinen Streit oder andere Probleme zwischen uns gab. Selbst ein A-Team (eine Art Rat von gewählten Personen, die bei Konflikten als neutrale gleichaltrige Ansprechpartner fungieren) lehnten wir geschlossen ab. Wir waren uns alle relativ sicher, Spannungen oder Uneinigkeiten untereinander wie Erwachsene klären zu können.  Alle Gruppenmitglieder und auch ein paar Leute aus der jeweils anderen Seminargruppe sind mir sehr ans Herz gewachsen und innerhalb von einer Woche habe ich viele neue Freunde hinzugewonnen. Jetzt habe ich nicht nur hier in Dresden Freunde, mit denen ich mich treffen und austauschen kann, sondern auch in anderen Städten wie Leipzig oder Chemnitz.

Wenn du meinen ersten Post gelesen haben solltest, dann kannst du dich vielleicht daran erinnern, dass ich mich dieses Jahr auch mal für andere stark machen will. Und eine Möglichkeit ergab sich während dieser Woche: Jede Seminargruppe wählt auch zwei Gruppensprecher, die ihre Gruppe über die Monate hinweg in allen möglichen Situationen vertreten und repräsentieren sollen. Stolz darf ich verkünden, dass ich in dieses Amt gewählt wurde. Etwas Aufwand und Verantwortung gehören schon dazu, aber bei so tollen Menschen ist es mir das allemal wert. Sicherlich wird über dieses Thema in nächster Zeit auch ein ausführlicher Bericht folgen.

Rückblickend, liebe/r Nachfolger/in, kann ich dir nur zwei Dinge raten: Mach dir nicht allzu viele Gedanken vor der Fahrt und hab Spaß! Die Woche wird viel zu schnell vergehen.

Bis bald - Annalena

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